Zeitzeuge – Ehepaar Gallwitz

Zeitzeugenbericht Susanne und Peter Galllwitz

Vertreibung ist eine Geschichte der Identität.

Seit 60 Jahren sind Susanne und Peter Gallwitz verheiratet, beide haben Flucht und Vertreibung erlebt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, bis sie einander fanden.

Am schlimmsten waren die Tiefflieger. Sie haben alles beschossen, was sich bewegte. Sie beschossen die Menschen in den Trecks auf der Flucht.“

Susanne Gallwitz, Vertrieben aus Schlesien

8 Jahre war Susanne Gallwitz, als im Januar 1945 in Glogau/Friedenshagen ein Zug ältere Menschen und Kinder aus Schlesien Richtung Mitteldeutschland brachte. Sie fuhr mit Ihrer Großmutter im Zug; die Mutter musste sich dem ebenfalls aufbrechenden Treck anschließen.

Großmutter und Enkelin kamen zunächst bis Chemnitz, wo sie einquartiert wurden und Tag und Nacht unter den Bombenangriffen litten. Susanne Gallwitz wurde mit anderen Frauen und Kindern im Keller ihres Hauses verschüttet – es war dunkel, nur Klopfzeichen vom Nachbarkeller waren zu hören. Mit bloßen Händen räumten die Frauen ein Schlupfloch frei, durch das sie den Keller verlassen konnten, hinein ins Feuerinferno der Phosphorbomben. Susanne weigerte sich fortan aus Angst, im Keller Schutz zu suchen. Sie hatten alles verloren. Hunger und mangelnde Unterkunft waren Alltag. „Am schlimmsten aber waren die Bombenangriffe“, erzählt Susanne Gallwitz.

Susannes Großmutter bestand darauf, dass sie die Schule im wenige Kilometer entfernten Nachbarort besuchte – zu Fuß und mit „Angst vor dem ständigen Tieffliegerbeschuss“, die „alles niedermähten, was sich bewegte, selbst die Bauern auf dem Feld“. Oft rannten die Mädchen davon, versteckten sich im Wald.

Zwei Jahre später erst fanden Susanne Gallwitz und ihre Großmutter über den eingerichteten Suchdienst die Mutter.

„Ich habe meine Kindheit verloren.“

Peter Gallwitz, Vertrieben aus Schlesien

Peter Gallwitz war 11 Jahre, als Ende Januar 1945 in Schüsselndorf (Schlesien) ein Treck zum Transport zusammengestellt wurde. Peter war durch die schulische Situation gerade bei Pflegeeltern, die, selbst 4 Kinder, sich auf der Flucht nicht mehr um ihn kümmerten. Er war allein unterwegs. Es war Winter, mit 30 Grad minus, 1,5 Metern Schnee. Etwa 20 Kilometer täglich mussten gelaufen werden. Schnell waren die Füße erfroren – die Schuhe nur noch mit Stricken zusammengehalten. Unterkunft gab es in ungeheizten Hallen, oft nur mit einem gefrorenen Stückchen Brot.

Über viele Stationen gelangte Peter Gallwitz ins Sudetenland, wo sich ein Eisenwarenhändler um den Jungen, der mutterseelenallein unterwegs war, kümmerte. Seine Füße wurden behandelt, er bekam Schuhe, Kleidung, Essen, etwas Zuwendung – bis seine Mutter ihn endlich fand. Sie nahm ihn mit nach Annaberg-Buchholz, wo sie untergekommen war. Doch Peter Gallwitz fühlte sich lange fremd: „Ich habe meine Kindheit verloren“, sagt er.

Der Vater fand die Familie im Juni 1945 bei Bautzen. Er war zuvor in englischer Gefangenschaft gewesen. Immer weiter musste die Familie ziehen, bis sie in die Nähe von Erfurt kam, und in den Nachbarort, in dem Susanne Gallwitz lebte. Einige Jahre später lernten sie sich kennen. Peter Gallwitz wurde Oberstudienrat.

1956 heirateten Susanne und Peter Gallwitz. Beide waren ihr Leben lang im Schuldienst tätig. Auch nach dem eigentlichen Austritt aus dem Dienst …

Historie Vertreibung DONAUSCHWALBEN

Geschichte geht ihren Weg. Gelebt wird sie von den Menschen.

Weichsel und Warthe, zwei Flüsse, geben dem Gebiet in Polen/Groß- und Mittelpolen, dem Industriegebiet um Lodz sowie Galizien und Wolhynien, den Namen. Bereits im 12. und 13. Jahrhundert siedelten sich Deutsche dort an und stellten im 14. Jahrhundert bis zur Hälfte der Bevölkerung. Die 2. und 3. Teilung Polens 1793/95 führten zu weiteren deutschen Ansiedlungen. In den 1918/20 von der 2. Polnischen Republik einverleibten Teilungsgebieten lebten 1939 fast 700.000 Deutsche (ohne Ost-Oberschlesien und Westpreußen). 1939 wurde das Posener Land als „Reichsgau Wartheland“ annektiert und nahm 250.000 deutsche Umsiedler aus von der UdSSR annektierten ost- und südosteuropäischen Gebieten auf. 450.000 Polen wurden in das „Generalgouvernement“ vertrieben.

Im Januar 1945 gab das Oberkommando der Wehrmacht bekannt, dass die Deutschen des „Reichsgau Wartheland“ ins Reichsinnere umzusiedeln sind – so die offizielle Meldung. Für viele kam diese „Umsiedlung“ zu spät; sie wurden vertrieben.

Die Familie von Erika Hesse lebte seit etwa 200 Jahren in dem Gebiet.

zeitzeugen heute

Sprache ist Identität.

Gemeinsam aktiv auch über die Grenzen hinweg waren Susanne und Peter Gallwitz mehr als 25 Jahre. Sie sind die Menschen, die die Brücken bauen, sie pflegen und damit Menschen verbinden. Über das Wort: die Sprache. Denn Sprache ist Identität. Sprache ist Sein. Wer vertrieben wird, verliert einen Teil seiner Identität. Sprache ist dabei zentral.

Seit 1992 und nach Austritt aus dem Schuldienst unterrichteten Susanne und Peter Gallwitz die deutschen Minderheiten in Oberschlesien in der deutsche Sprache. Sie bauten Schulen auf, entwickelten Lehrprogramme und Lehrmaterialien, bildeten aus und unterrichteten – um die deutsche Sprache zu beleben und so ein Stück weit Identität zu schaffen.

Zum gemeinsamen Projekt wurde dies, als sie in der Zeitung lasen, dass in Oberschlesien Lehrer gesucht wurden. Dort wohnen noch immer viele Deutsche. Doch die deutsche Sprache war 50 Jahre lang verboten gewesen. Nun widmete sich die deutsche Minderheit vor allem in Schlesien wieder dem Aufbau des deutschen Sprachunterrichts. Also zogen Susanne und Peter Gallwitz zunächst für etwa 1 Jahr fest nach Oberschlesien und wurden dort von polnischer Seite als Lehrer eingestellt. Als studierte und erfahrene Lehrer sind sie die Richtigen, um das Projekt umzusetzen. Doch selbst zurückgekehrt, helfen beide intensiv weiter bei Aufbau und Umsetzung. Und sie gründen dort einen Germanistenverband.

Dafür erhielt Peter Gallwitz 2022 das Bundesverdienstkreuz. Er wurde von polnischer Seite dafür vorgeschlagen.

Seit der Gründung des BdV in Thüringen sind Susanne und Peter Gallwitz dort aktiv.

1990

Gründung des
BdV Landesverband Thüringen

3.000

engagierte Mitglieder

1 €

monatlich ist der
symbolische Mitgliedsbeitrag