Zeitzeuge – Erika Hesse

Zeitzeugenbericht Erika Hesse

Vertreibung ist eine Geschichte der Frauen und Kinder.

„Meine Mutter weinte jede Nacht im Schlaf.“

Erika Hesse, Vertreibung aus dem Gebiet Warthe-Weichsel

Tante und Oma waren es, die mit 5 Kindern – unter ihnen die 2 Jahre alte Erika – von einer Stunde auf die andere, mit nicht mehr als einem kleinen Rucksack auf der Flucht waren. Aus der Provinz Posen (Wielkopolska – Großpolen) machten sie sich auf den Weg. Das Ziel: Bekannte im heutigen Harztor (Thüringen). Einen Anlaufpunkt und helfende Hände, die nicht viele hatten. Die Mutter blieb zurück, um das Vieh der Landwirtschaft zu versorgen und um da zu sein, wenn der Vater aus dem Krieg kam. Eine nachvollziehbare, aber fatale Entscheidung.

Sie wurde in ein Lager verschleppt; 1947 erst kam sie zutiefst traumatisiert nach Thüringen. Der Vater überlebte den Krieg, kam 1946 zurück nach Lipin-Hauland. Von einem jungen fanatischen Polen wurde er angeschossen, eine Versorgung im Krankenhaus verhindert. Er verstarb. Polnische Freunde sorgten für die Beerdigung.

Als Kind und Heranwachsende hat Erika Hesse die Frauen um sich erlebt. Noch heute ist ihr unklar, wie diese es schafften, mit nichts die Kinder zu ernähren, zu kleiden, zu trösten und zu stärken. Denn Vertreibung bedeutete Armut, Hunger, Verhöhnung, Mittel- und Heimatlosigkeit.

Die Frauen sprachen nicht über das, was ihnen widerfuhr. Die Mutter wachte Nacht für Nacht auf – weinend, mit den Träumen des Erlebten. Musste in Behandlung. Für das Kind Erika, die mit ihr in einem Bett schlief, ein eigenes Drama. Oft fragte sie sich: Bin ich schuld? Kann ich etwas tun? Auch Oma und Tante erwähnten die Erlebnisse der Flucht, die Angst, die Bombardierungen, die Vergewaltigungen, die Kälte, den Hunger mit keinem Wort. Es musste vorangehen: ein Dach über dem Kopf gefunden, die Kinder versorgt werden. Wunden wurden Narben. Totgeschwiegen.

Totgeschwiegen wurde in der sich bildenden DDR auch die Geschichte der Vertreibung. Man sprach nicht darüber. Nannte sie „Umsiedler“, nicht Vertriebene. Verbot, darüber zu sprechen. Man wusste nicht, wie viele es waren, die das Schicksal teilten. Man fand sich nicht. Noch nicht. In der BRD gründete sich 1949 bereits die Landsmannschaft Weichsel-Warthe. 1957 dann die Gründung des Bund der Vertriebenen e. V. Für etwa 14 Millionen Betroffene endlich eine Möglichkeit zum Austausch, zur Hilfe – und Kontakt zur Heimat.

Hilfen gab es in der DDR kaum. Es gab keine Witwenrente. „Habenichts“ wurde Erika in der Schule gerufen. Die Frauen fanden einen Weg, sich und die Kinder durchzubringen. Erika lernte, studierte. Mehrfach sogar. Erhielt Stipendien für gute Leistungen. Sie wurde Lehrerin, mit Leib und Seele. Was sie prägte, hat sie sich zur Aufgabe gemacht.

zeitzeugen heute

Dank den Müttern der Zeit.

Die Geschichte der Vertreibung ist einer Geschichte der Frauen, Mütter und Kinder. Seit der Wende engagiert sich Erika Hesse im BdV Landesverband Thüringen. Zunächst wird eine Ortsgruppe gegründet – der Saal ist brechend voll. Allein im Ort gibt es etwa 100 Mitglieder. Was nicht verwundert, wenn man weiß: 23 Prozent der Bevölkerung in Thüringen am Ende des Krieges sind Vertriebene.

Sie lehrt in der Schule die Geschichte der Vertreibung. Sie möchte erinnern. Also spricht sie den bekannten Bildhauer Lothar Rechtacek an – selbst mit der Familie vertrieben aus dem Sudetenland –, schildert ihm ihre Idee einer Gedenkstehle für die Mütter der Zeit. 2005 wird die Skulptur mit der Inschrift Dank den Müttern jener Zeit in Harztor enthüllt. Sie zeigt eine Mutter, die ihre Kinder schützend umarmt. Die Stehle trägt das Zitat Albert Schweitzers:

„In schlimmster Weise vergeht man sich gegen das Recht, wenn man Völkerschaften das Recht auf Land, das sie bewohnen, in der Art nimmt, dass man sie zwingt, sich anderswo anzusiedeln.“

39.229

Höchststand der angekommenen Vertriebenen im Landkreis Nordhausen
im Oktober 1945

64.000

Stammbevölkerung im
Landkreis Nordhausen 1945 

42

Zahl der Vertriebenendenkmäler
in Thüringen