Zeitzeuge – Wilhelm Geretzky

Zeitzeugenbericht Wilhelm Geretzky

Vertreibung ist eine Geschichte des Verlierens.

Ich hatte alles, was ich brauchte.

Wilhelm Geretzky, Vertrieben aus dem Sudetenland

Wilhelm Geretzky ist 13 Jahre alt, als sich 1944 die Situation in seinem Heimatort Troppau (heute Opava, Tschechien) zuspitzt. Sein Vater hat einen Betrieb für Limonaden und Mineralwasser, den er schließen muss. Es gab keine Zutaten mehr für die Getränke, tägliche Bombenangriffe erschüttern ab November 1944 das Gebiet, es fallen Bomben; Tiefflieger greifen an. Wilhelm ist in dieser Zeit beim Jungvolk. Sie müssen arbeiten: Flugblätter einsammeln (lesen verboten), aber auch Kinderleichen aus einem bombardierten Haus tragen. Sie müssen antreten, um Massenerschießungen von Deserteuren zuzusehen.

Im Februar 1945 beginnt die offizielle Evakuierung der bereits zu 90 Prozent zerstörten Stadt. Die Menschen hatten ihre Flucht schon auf verschiedene Weisen begonnen. Die Familie geht zunächst nach Neutitschein (heute Nový Jičín) zur Großmutter, etwa 50 Kilometer entfernt. Auch dort erlebt der Junge verschiedene Kriegswirren. Deutsche müssen zu der Zeit ein N für Nemeč = Deutscher tragen, bekommen besondere Lebensmittelrationen. Am 04. Juli 1945 beginnt die eigentliche Vertreibung. Wagen mit Lautsprechern fahren durch den Ort, befehlen, dass sich alle Deutschen zur Kontrolle um 20 Uhr am Marktplatz einzufinden haben. Schlüssel sind aus Kontrollgründen an den Haustüren zu belassen. 22 Uhr wurde der Platz abgeriegelt, die Deutschen wurden zum Bahnhof und in offene Viehwaggons verbracht. Die Fahrt ging an Prag und Theresienstadt vorbei – es wird befürchtet, dass der Transport dorthin führt. Aber es geht weiter.

„Es gab nichts. Es war niemand da. Was du nicht hattest, hast du nicht gegessen.“

Zu Fuß geht es am Ende über die Grenze nach Schmilka: Wilhelm, Mutter mit Brüderchen (17 Monate alt), seine Großmutter und Tante. Der Vater blieb zurück, kam in Gefangenschaft und fand die Familie erst 1947. Man lebte zunächst mit nichts im Freien, nahm Wasser aus der Elbe – das Brüderchen bekam die Ruhr und starb. Die Mutter war krank, also brachte Wilhelm ihn in Krepppapier gehüllt zum Friedhof. Sie kamen nach Pirna. Man lebte eng an eng in Massenunterkünften, kaum Verpflegung – Krankheit und Tot griff um sich. Im Oktober 1945 ging es mit dem Zug weiter Richtung Thüringen bis Gera-Langenberg; dann Entlausung und weiter nach Schleiz. Der kleinen Familie, 4 Personen, wurde ein kleiner, kalter Raum zugewiesen.

„… ich habe in der Nacht aufgeholt, was versäumt worden war.“

1946/47 besucht Wilhelm nach 3 Jahren Pause wieder eine Schule, mit Abschluss 8. Klasse mit Zeugnis. Sein Schulheft war aus Packpapier. Zunächst kommt er zu einem Bauern, eine Tag pro Woche in die landwirtschaftliche Berufsschule; dann ging er auf die landwirtschaftliche Fachschule und lernte und lernte Tag und Nacht. Das brachte ihm ein Bewerbungsgespräch an der Jenaer Arbeiter- und Bauern-Fakultät ein, das er bestand. Er wurde Ausbilder und besuchte das Gymnasium, das er ebenfalls abschloss, am 17. Juni 1953. Dann beginnt er ein Studium der Geschichte und Geografie. Er wird Diplompädagoge.

Bei Gründung des BdV Thüringen ist Wilhelm Geretzky dabei und seitdem dort sehr aktiv. Er ist eingebunden in die Arbeitsgemeinschaft Jugend & Schule sowie in das Zeitzeugen-Projekt des BdV Landesverbandes Thüringen. Er besucht regelmäßig Schulen oder Institute, um Schülerinnen und Schülern sowie Studentinnen und Studenten von seiner Vertreibung zu berichten und diskutieren.

112.584

aus dem Sudetenland in Thüringen

1.202.500

errechneter Schlüssel der Vertriebenen, die das Land Thüringen 1945 voraussichtlich aufzunehmen hat

> 12 Millionen

Vertriebene Deutsche um 1945 gesamt