Zeitzeuge – Karl Stein

Zeitzeugenbericht Karl Stein

Vertreibung ist die Geschichte des Vergebens und Erinnerns.

„Es war an meinem 15. Geburtstag.“

Karl Stein, Vertrieben aus Westpreußen

10 Jahre alt war Karl Stein 1945. Er und seine kleine Familie, Mutter und Bruder (12 Jahre) – der Vater war bereits verstorben, die Großeltern sind auf der Flucht umgekommen – konnten nicht mehr flüchten und wurden in das Arbeitslager Potulice (Potulitz) verbracht. Potulice war kein gewöhnliches Arbeitslager, es war ein eigens von den Nazis in den 30er-Jahren errichtetes Lager für polnische Gefangene. Das größte Arbeitslager der Region (über 10.000 Menschen). Mit Ende des Krieges wurden Deutsche wie Karl Stein ins Lager verbracht. Sie wurden nun von den bis dahin dort Inhaftierten Polen, den Überlebenden, bewacht – ein perfider und grausamer Racheakt.

Im Lager angekommen wurden Mutter und Brüder sofort getrennt. Die Mutter kam zu den Frauen, Karl zu den Kindern, der Bruder zu den Jugendlichen. 4,5 Jahre haben sie einander nicht gesehen. Keiner wusste, wo die anderen sind, ob es ihnen gut geht.

Lageralltag beinhaltete, dass beim Morgenappell die Bevölkerung aus dem Umland Arbeitskräfte für den jeweiligen Bedarf gegen eine Gebühr auswählen durfte. Karl hatte mehrfach das Glück, jeweils für ein halbes Jahr ausgeliehen zu werden. Er arbeitete bei Bauern, bei einem Hotelbesitzer, in einer Weberei. Er lernte Polnisch und hatte so zumeist ausreichend Essen.

Im letzten halben Jahr hatte Karl erneut Glück – er wurde Laufbusche im Lager. So konnte er sich frei bewegen. Eines Tages hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er sah sich um. Es war seine Mutter. Sie hatte ihn nach über 4 Jahre erkannt.  Es war der 11. Mai 1949 – Karls 15. Geburtstag. Auch den Bruder fand Karl Stein alsbald, sodass die kleine Familie gemeinsam auf den Ende Mai 1949 zusammengestellten Transport nach Deutschland, Sonneberg, gehen konnte. Dort kamen sie in ein großes Quarantänelager, bekamen sodann einen Raum als Unterkunft – das Leben in Deutschland konnte beginnen.

Als 4-Klassenschüler mit nur wenig Deutschkenntnissen holte Karl Stein viel Lehrstoff auf. Er war fleißig, kam, für Kost und Logis, bei einem Bäcker in die Lehre, der auch Landwirt war und eine Gaststätte betrieb. So war immer viel zu tun. „Ich war morgens der Erste, abends der Letzte“, erzählt er. Nach 3,5 Jahren bestand er die Gesellenprüfung, ging in die Großbäckerei des Konsum, wurde Lehrausbilder, absolvierte die Meisterschule, begann schließlich am Meiniger Lehrerbildungsinstitut ein Studium zum Lehrer. 3 Jahre später schloss er es ab und wurde Lehrer. Von Beginn an war er politisch sehr engagiert; gründete nach der Wende mit den BdV Landesverband Thüringen und wurde fortan bis heute stellvertretender Kreisvorsitzender.

zeitzeugen heute

„Vergeben ja, vergessen nicht.“

1992 gründete sich ein Verein, dem auch Karl Stein beitrat. Dieser hatte sich zur Aufgabe gemacht, für die im Lager Potulice von 1945 bis 1949 verstorbenen Deutschen einen Friedhof zu schaffen. Ein Anliegen, das bereits von polnischer Seite für die 1939 bis 1945 im Lager verstorbenen Polen angestrebt wurde. Im Umfeld des Lagers gab es drei Massengräber; man wollte den dort Verstorbenen gedenken, einen Ort des Erinnerns schaffen.

Nach längeren Verhandlungen beider Seiten und mit Hilfe vieler Spenden und Eigeninitiativen gelang es dem Verein, nicht nur im Lager einen Gedenkstein zu setzen, sondern auch auf den 3 Massengräbern 3 Kreuze für die im Lager verstorbenen Deutschen aufzustellen. Die Einweihung 1998 wurde in einem offiziellen Festakt gemeinsam von Polen und Deutschen begangen. Polen und Deutsche reichten sich über den Gräbern die Hände mit dem Ansinnen: „Vergeben ja, vergessen nicht.“

Als sich die aus Deutschen und Polen bestehende Delegation in einem Marsch dem Lager näherten, wurden diese vom dortigen Kommandanten eingeladen, das eigentlich nicht öffentliche Lager noch einmal anzuschauen; er führte sie durch den Komplex. Spontan stoppte er an der lagerinternen Bäckerei und holte einen Arm voll Brot. Gemeinsam brachen und teilten Polen und Deutsche das Brot – eine höchst emotionale, wohlwollende Geste, die den Opfern beider Seiten gerecht wurde. Neben Gedenkstein und Kreuzen wurde auch ein Gedenkraum, eine Art Museum in der Schule in Potulice geschaffen. Auch dieser Raum ist dem Gedenken an Polen und Deutsche, die im Lager litten und umkamen, gewidmet. Eine Seite des Raumes erinnert an die Gräueltaten an den Polen, die andere an die an den Deutschen. Die Schüler betreuen diesen Raum und sind angehalten, die Geschichte lebendig zu halten; die Geschichte des Lagers von 1939-1945 und die Geschichte des Lagers 1945-1950. Eine Geschichte der Täter und Opfer beider Seiten.

3.000

geschätzte Zahl der eltern- und
heimatlosen Kinder in Thüringen 1945/46

90

Quarantäne- und Kreislager 

49.000

Aufnahmefähigkeit etwa der
jeweils 90 Lager